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Kritik an sozialen Medien Es lebe die Verweichlichung

Das Internet macht dumm, es raubt uns unsere Seelen, es führt zu Verflachung und ständiger Ablenkung: Nun formuliert diesen Unsinn jemand, von dem man das nicht erwartet hätte: Der Chefredakteur der höchst internetaffinen "New York Times". Eine Gegenrede von Christian Stöcker.
Facebook: Der Chef der "New York Times" wettert über die "falsche Kameradschaft" dort

Facebook: Der Chef der "New York Times" wettert über die "falsche Kameradschaft" dort

Foto: Julian Stratenschulte/ picture-alliance/ dpa

Das Verteufeln von Werkzeugen nicht trotz, sondern wegen ihrer Nützlichkeit gehört zu den skurrileren Blüten, die die Debatte um Netz und Digitalisierung in der jüngsten Zeit treibt. Taschenrechner haben uns einen Verlust beschert, heißt es da zum Beispiel: Wir sind heute schlechtere Kopfrechner als Menschen in den Fünfzigern.

Festplatten und Telefonspeicher stehlen uns das letzte bisschen Gedächtniskünstlerschaft, den Großteil hat uns schon der vermaledeite Buchdruck geklaut. Im Moment zerstören Navigationssysteme gerade unseren Orientierungssinn. Was uns Maschinen abnehmen, verkümmert. "Wir outsourcen unsere Gehirne in die Datenwolke" , schrieb der Chefredakteur der " New York Times", Bill Keller, am Mittwoch. Das Lösen realweltlicher Probleme - Rechenaufgaben, Informationsspeicherung, Orientierung - ist dieser Logik zufolge ein Schritt in die falsche Richtung, weil es die Menschheit zunehmend verweichlichen lässt.

Das Lamento über all die verlorenen Fähig- und Fertigkeiten entlarvt sich selbst als absurd, wenn man es noch ein bisschen weiter in die Vergangenheit treibt. Die wenigsten von uns können heute noch Körbe flechten, Brot backen oder mit Ochs, Egge und Pflug ein Feld bestellen - letzteres würde uns schon rein körperlich überfordern. Viele hämische Bemerkungen waren in den vergangenen Jahren zu lesen über Hartz-IV-Empfänger, die sich so gar nicht zur Spargel- oder Gurkenernte eignen wollten.

Fakt ist aber, dass ein großer Großteil der erwerbstätigen Bevölkerung zu diesen oder ähnlichen Arbeiten kaum noch in der Lage wäre. Kein Zweifel: Ein Bauer im 18. Jahrhundert war härter als wir, konnte vermutlich auch mit weniger Gejammer Schmerzen aushalten (und starb folgerichtig auch viele Jahre früher). Der Niedergang der Menschheit fing demnach spätestens mit der Erfindung dampfbetriebener Landmaschinen an, wenn nicht schon mit dem Einsatz von Zugpferden.

Technischen Fortschritt auf Basis der Erleichterungen zu kritisieren, die er der Menschheit bringt, ist nicht nur widersinnig, es ist reaktionär. Und trotzdem erfreut sich diese Haltung, offen oder verdeckt, gerade wieder größerer Popularität. Der Grund ist die als schmerzhaft erlebte Geschwindigkeit, mit der digitale Technologie derzeit die Welt verändert. Die Digitalisierung scheint als umso quälender wahrgenommen zu werden, je später sie in das Leben eines Menschen eingebrochen ist. Wissenschaftliches Faktum am Rande: Etwa ab Mitte Dreißig nimmt die Fähigkeit des Menschen, sich an Veränderung anzupassen, rapide ab.

Kellers masochistisches Experiment

Bill Keller ist 1949 geboren. Sein Ausbruch gegen die digitalisierte Welt erscheint deshalb auf den ersten Blick erstaunlich, weil gerade seine "New York Times" neue Medien "mit kreativem, preisgekröntem Gusto umarmt hat", wie Keller selbst schreibt. Die Zeitung war eine der ersten, die einen eigenen "social media editor" anstellte, um die Verzahnung zwischen der Website der "New York Times"  und sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter zu professionalisieren, sie gilt vielen als Vorbild in Sachen Journalismus im Netz.

Keller twittert  selbst. Für den Artikel unternahm er "eine Art masochistisches Experiment", wie er das nennt: Er tippte (auf Englisch) "#TwitterMachtUnsDumm - diskutieren Sie" ins Fenster seines Twitter-Clients und wartete, was passieren würde. Erwartungsgemäß waren die meisten Twitterer nicht seiner Ansicht. Das ist übrigens auch hier drüben in der Offline-Welt so: Wenn man Menschen unterstellt, sie seien dumm oder auf dem Weg zur Verdummung, reagieren sie oft ungehalten. Man kann das leicht selbst ausprobieren: Gehen sie mal in eine Sportsbar/eine Bibliothek/eine Sambaschule und rufen Sie laut und vernehmlich: "Fußball/Lesen/Samba macht dumm! Diskutieren Sie!"

Im Gegensatz zum vermutlichen Ausgang solcher realweltlichen Experimente erntete Keller erstaunlicherweise nicht nur Ablehnung, sondern, wie er selbst schreibt, auch ein paar "geistreiche" und "ernsthaft offensichtliche" Antworten, darunter "kommt darauf an, wem man folgt". Der Journalistikprofessor Jeff Jarvis, den Keller in seinem Artikel nicht zitierte, schoss via Twitter zurück: "Bill. Die 'New York Times' sagt uns nicht mehr, was wir zu diskutieren haben. Das macht jetzt Twitter." Trotz alledem leitete Keller aus seiner persönlichen Auswertung der Reaktionen ab, egal ob Twitter nun dumm mache oder nicht, "es lässt jedenfalls manche schlauen Leute dumm wirken".

Der Preis des Fortschritts

Er befürchte, dass der Preis des Fortschritts diesmal sein könnte, dass wir "einen Teil von uns selbst verlieren", schrieb Keller, und garnierte das mit den üblichen, oft gehörten Einwänden gegen digitale Kommunikation: Sie sei ja gar nicht wirklich "sozial", sie lenke uns nur ab, sie fördere flache, triviale Formen von Kommunikation, mehr noch, sie bedrohe "unsere Fähigkeit, zu reflektieren, unser Streben nach Sinn, echte Empathie, ein Gemeinschaftsgefühl, das auf mehr beruht als Gehässigkeit oder politischer Ausrichtung".

Der eigentliche Anlass für die überraschende Abrechnung des Journalisten mit dem sozialen Netz der Gegenwart scheint ein Erlebnis mit seiner 13-jährigen Tochter gewesen zu sein. Seine Frau und er hätten ihr kürzlich erlaubt, Facebook zu benutzen, schrieb Keller. "Innerhalb weniger Stunden hatte sie 171 Freunde angesammelt, und ich fühlte mich, als hätte ich meinem Kind eine Pfeife mit Crystal Meth gereicht."

Man kann sich vorstellen, wie Keller dieses Erlebnis in der Runde der "NYT"-Ressortleiter erzählte, die alle mit ihren Kindern schon Ähnliches erlebt haben müssen und wie die anschließende, von Witzen und Zwischenrufen durchsetzte Debatte schließlich zu dem Aufruf führte, das doch mal aufzuschreiben, das müsse doch mal gesagt werden.

Nun darf als sicher gelten, dass Väter, deren 13-jährige Töchter eine neue Leidenschaft für sich entdecken, egal ob es Reitpferde sind oder Justin Bieber, in aller Regel Ähnliches beobachten wie der 62-jährige Papa Keller: unverständliche, exzessive Faszination für einen doch offenbar trivialen Gegenstand. Dass der "NYT"-Chef das nun zum Anlass nahm, eine womöglich seelenzersetzende Wirkung sozialer Medien zu diagnostizieren, spricht für viel angestaute Gegenwartsangst (und vergleichsweise wenig Vertrauen in sein eigenes Kind).

Generation Internet

Für seine weitreichenden Befürchtungen hat der Journalist keinerlei Evidenz außer seinem persönlichen Unbehagen anzubieten. Dabei ist zu vermuten, dass Kellers 13-jährige Tochter die meisten ihrer 171 Facebook-Freunde tatsächlich persönlich kennt und mag. Zahlreiche Studien in den USA und auch in Deutschland haben längst gezeigt, dass junge Nutzer von Social Networks darin in erster Linie ihr reales soziales Umfeld abbilden. Auf 62-jährige Zeitungschefredakteure trifft das nicht im gleichen Maße zu.

Menschen jenseits der 50 haben gegenüber jenen unter 40 (grob gesprochen) einen entscheidenden Nachteil, was das kommunikative Internet angeht: Sie haben es in der Mehrheit nur als zunächst freudloses Arbeitswerkzeug kennengelernt, sie schrieben ihre ersten E-Mails an Kollegen oder den Chef, nicht an das Mädchen, in das sie heimlich verliebt waren. Sie sind bei Facebook, weil sie das Gefühl haben, das wäre besser so, nicht, weil dort ihre Freunde miteinander sprechen. Und sie kommunizieren, etwa via Twitter, mit Wildfremden. Dass dabei dann Unterhaltungen herauskommen, die mancher als "flach", als "nicht sozial" oder "trivial" erlebt, verwundert nicht übermäßig.

Dass solche Menschen vielleicht das Gefühl haben, sie führten selbst zu wenige gute Gespräche, hat vermutlich mehr mit ihrer Arbeitsbelastung zu tun als mit dem Internet. Allgemeine Aussagen über die Wirkung des sozialen Netzes auf das Seelenleben der Menschheit lassen sich daraus ebensowenig ableiten, wie man allgemeine Aussagen über die Nützlichkeit von Flaschenzügen aus dem durchschnittlichen Bizepsdurchmesser des modernen Menschen ableiten kann.

In diesem Sinne: Es lebe die Verweichlichung.

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