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Streit um Internet-Nutzung Komfort schlägt Freiheit

Zorn und Krach zwischen Netz-Veteranen: Ur-Blogger Dave Winer wirft den Meinungsführern im Silicon Valley Verrat am offenen Web vor. Doch der Erfolg geschlossener Plattformen wie Facebook ist eine Folge der veränderten Online-Demografie: Im Mainstream schlägt Komfort die Vorzüge offener Strukturen.
Mark Zuckerberg: Der Facebook-Boss erklärt das Netz

Mark Zuckerberg: Der Facebook-Boss erklärt das Netz

Foto: JUSTIN SULLIVAN/ AFP

Für die meisten Menschen ist nicht auf Anhieb verständlich, worum es bei diesem Streit geht, aber er liest sich sehr unterhaltsam, es fallen einige Schimpfwörter und nebenbei lässt sich beim Lesen der bitterbösen Zeilen ein Grundkonflikt im Netz erahnen.

Der Streit zwischen dem Netzveteranen Dave Winer und einigen prominenten Autoren des einflussreichen Technikblogs TechCrunch begann, als vor ein paar Tagen "TechCrunch"-Blogger MG Siegler den nahen Tod des Netz-Standards RSS (really simple syndication oder auch rich site summary) prognostizierte . Der Standard sei nur noch für einen sehr kleinen Teil aller Besuche im eigenen Angebot verantwortlich, so legte Siegler in einem weiteren Artikel auf TechCrunch  nach, andere Traffic-Quellen wie Twitter oder Facebook liefen RSS den Rang ab.

Das klingt sehr speziell, doch es geht dabei um Grundsätzliches, was neben Streitlust vielleicht die heftige Reaktion des RSS-Erfinders Dave Winer erklärt. "Profi-Techblogger von der Westküste sind größtenteils Arschlöcher", war eine seiner öffentlichen Reaktionen auf die Prognose, in die Welt gesandt via Twitter . "TechCrunch"-Gründer Michael Arrington schoss  irgendwann zurück: "Sie verwechseln mich mit jemandem, der sich einen Dreck um das kümmert, was Sie zu sagen haben." Rund um den Globus wurde der Streit zwischen den Netz-Prominenten mit einem gewissen Amüsement verfolgt.

Winer ist nicht irgendwer. Der Mann schreibt seit 1997 eines der ersten Blogs überhaupt, er hat das Medium Podcast miterfunden und den RSS-Standard entwickelt. RSS, der Ausgangspunkt des Streits, ist ein offenes Format, mit dem Internetangebote Texte oder Fotos zum sekundenaktuellen Einspeisen auf anderen Seiten bereitstellen können.

Offene Standards verschwinden im Hintergrund

Einige Beispiele: Wenn Nachrichtenseiten RSS-Feeds anbieten, können Nutzer diese in einer speziellen Anwendung abonnieren und sehen dann immer, wenn ein neuer Artikel veröffentlicht wird, eine Kurzversion oder auch den Volltext. RSS nutzen inzwischen aber auch Webangebote als Format zum Datenaustausch - will man aktuelle Flickr-Fotos, Blog-Einträge oder SPIEGEL ONLINE Schlagzeilen in ein Facebook-Profil einspeisen, funktioniert das per RSS-Strom.

Warum dieses Format angeblich stirbt? Die RSS-Verächter argumentieren seit Jahren so: Dienste wie Facebook und Twitter bieten (unter anderem) eine für die Mehrheit der Nutzer wesentlich komfortablere Methode, bestimmte Nachrichtenströme zu verfolgen. Um einen Kanal zu abonnieren, muss man nicht ein Dutzend Mal klicken und spezielle RSS-Leseanwendungen aufrufen. Man klickt bei Facebook oder Twitter einfach auf eine Fläche mit der Aufschrift "Gefällt mir" oder "Folgen". Das ist erheblich einfacher.

Nun ist das RSS-Format als Infrastruktur, die Nutzer kaum bemerken, sehr lebendig: Gefeierte iPad-Anwendungen wie Flipboard bauen darauf auf, Facebook saugt viele Webquellen über RSS-Datenströme in die Profile seiner Nutzer. Aber das Nachrichtenlesen per RSS-Feed wird angesichts der Facebook- und Twitter-Nutzung zu einer Nischenanwendung. Daran entzündet sich der Streit zwischen Winer und "TechCrunch" wohl: Selbst wenn heute doppelt so viele Menschen wie vor zehn Jahren wissen, was RSS ist und entsprechende Dienste nutzen - die Entwicklung der Nutzerstruktur im Netz hat diese Gruppe marginalisiert.

Mehr Normalos im Netz - neue Prioritäten bei Hightech-Investoren

Die Demografie der Onliner hat sich in den vergangen Jahren radikal verändert. Seit Jahren belegen immer neue Statistiken, dass das Netz im Mainstream ankommt, dass die Nutzer im Schnitt etwa älter werden, dass neue, eher technikferne Gruppen online sind. Logische Konsequenz: Für Firmengründer, Entwickler, Risikokapitalgeber und die Struktur des Webs wird immer relevanter, was die Masse nutzt.

Was das bedeutet, zeigen zum Beispiel die meistverwendeten Suchbegriffe: Laut dem Statistik-Dienstleister Experian Hitwise  war im Jahr 2010 der Begriff "Facebook Login" die am zweithäufigsten von US-Nutzern gestellte Suchanfrage, vier Varianten von Facebook-Suchanfragen waren unter den zehn am häufigsten gestellten Anfragen. Das zeigt, dass viele Webnutzer heute zentrale Konzepte der Webnutzung wie zum Beispiel Lesezeichen und URLs nicht kennen oder nicht nutzen: Sie suchen selbst ihnen vertraute Seiten, statt einfach dorthin zu surfen. Sie halten Google für die "Bedienung" des Webs.

Man kann als Bookmark- und RSS-Nutzer darüber lächeln und sich zwecks Statussteigerung per Abgrenzung überlegen fühlen wie es Internetnutzer schon in den Neunzigern gegenüber den AOL-Kunden taten.

Wer den Online-Mainstream bedient, kann am meisten verdienen

Aber das ändert nichts daran, dass Webangebote heute den größten Erfolg haben können, wenn sie sich am Mainstream-Nutzer und dessen Bedürfnissen orientieren.

Wie diese Veränderung konkret aussieht, illustriert ein Zitat des Risikokapital-Veteranen John Doerr von Kleiner Perkins  sehr gut. Er erzählte im November dem Publikum einer Web-Konferenz: "Zynga ist die am schnellsten wachsende, profitabelste Firma mit den meisten glücklichen Kunden, in die Kleiner je investiert hat." Kontext: Kleiner Perkins hat unter anderem Google und Amazon finanziert.

Zynga betreibt Online-Spiele wie City- und Farmville, in denen man mit seinen Facebook-Freunden zum Beispiel Äcker bestellt und Schweine züchtet. Das ist Mainstream-Unterhaltung. Zum Mainstream-Erfolg von Twitter in den Vereinigten Staaten dürfte mit Sicherheit beigetragen haben, dass das Unternehmen Film- und Popstars gezielt als Nutzer akquiriert, dafür sogar Mitarbeiter in Hollywood angestellt hat.

Einfach zu bedienende Datensilos gewinnen Nutzer

Warum die Menschen die Äußerungen ihrer Stars direkt bei Twitter oder auch bei Facebook verfolgen - und nicht einen RSS-Feed abonnieren und in einer speziellen Anwendung importieren? Es ist einfacher und kommunikativer. Unterschiedliche Web-Anwendungen für unterschiedliche Nutzungsarten (Informieren, Kommentieren, Archivieren usw.) zu nutzen, ist vielen Anwendern zu komplex. Man liest zum Beispiel die Nachrichten des US-Senders NPR bei Facebook, weil man ohnehin dort ist. Dass sich diese Nachrichten als RSS-Feed im Google Reader zum Beispiel markieren und verschlagworten und auch nach Monaten noch per Volltextsuche finden lassen, ist für die Mehrheit der Nutzer nicht relevant.

Einfache Benutzerführung siegt. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass Apples Konzept des App Stores (mit einem Klick vorab geprüfte Anwendungen installieren und automatisch aktualisieren) so erfolgreich ist und das Unternehmen dieses Angebot nun auch auf stationäre Rechner ausweitet. Klar, warum sollte man in Blogs nach Bewertungen von Programmen suchen, dann die Entwicklerseite ausfindig machen, die Anwendung herunterladen und installieren, wenn man all das auch an einem Ort, eben Apples Softwaresupermarkt tun kann?

Offenheit ist nicht das einzige Erfolgskriterium im Endkunden-Mainstream

Ein Grund, Alternativen zu solchen bequemen Lösungen zu suchen ist die Geschlossenheit dieser Plattformen. Im App Store bestimmt Apple, was überhaupt angeboten werden darf. Bei Facebook und Twitter laufen all die Kommentare, Fotos und Nachrichten in das Datensilo eines Anbieters. Dave Winer wirft den RSS-Verächtern vor , sie würden bei ihrem Lob für die neuen, massentauglichen Kanäle Facebook und Twitter die Geschlossenheit dieser Plattformen ignorieren.

Winer: "Die Meinungsführer des Silicon Valley denken nicht nach und insoweit sie uns anführen, führen sie uns in eine falsche Richtung." Winer nennt Facebook und Twitter "corporate blogging silos", Angebote also, bei denen Unternehmen kontrollieren, wie Nutzer die von Nutzern eingestellten Inhalte verwenden können. TechCrunch-Gründer Arrington wies auf eine gewisse Inkonsistenz hin: "Ihnen ist schon klar, dass sie sich gerade via Twitter darüber aufregen, ja?"

Den Begriff "Daten-Silo" für Facebook hat der Erfinder des World Wide Web Tim Berners-Lee vor einigen Wochen ins Spiel gebracht. Berners-Lee kritisiert die Vorherrschaft weniger Online-Riesen, die digitale Informationen einsperren. Seine Warnung: Seiten wie Facebook saugen Daten auf, geben aber selbst wenig preis. Als größte Gegner eines freien Netzes macht Berners-Lee neben Regierungen, die das Nutzungsverhalten ihrer Bürger überwachen, große soziale Netzwerke aus, die Informationen horten und streng abgeschirmt vom Rest des Webs Datenmonopole pflegen.

So recht Winer und Berners-Lee mit ihrer Kritik haben - sie verfängt nicht. Facebook wächst, das Apple-Prinzip der geschlossenen Software-Plattform nehmen sich aufgrund des Erfolgs immer mehr Anbieter zum Vorbild für eigene Angebote (Amazon zum Beispiel beim Android-Softwareangebot). Offenheit der Plattform und Datenportabilität ist kein Erfolgskriterium im Endkunden-Mainstream, solange die negativen Auswirkungen nicht bei der alltäglichen Nutzung spürbar sind.

Es scheint, als könnte ein erheblicher Teil der Nutzer im Web heute sehr gut ohne Bookmarks, ohne RSS und mit zwei, drei Anlaufpunkten für die gesamte Internetnutzung auskommen. In Zukunft dürfte diese Nutzer-Gruppe eher wachsen als andere. Es wird deshalb immer aussichtsreicher, Angebote fürs Mainstream-Web zu finanzieren. Das Risiko für das offene Netz ist also nicht so sehr, dass offene Standards wie RSS aussterben, sondern dass immer mehr Kreativität, Energie und Geld in die Entwicklung schicker, gut bedienbarer, massenkompatibler Silos fließt.

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